Angenommen - Antrag zur Juso Bezirkskonferenz Niederbayern: Anfang diesen Jahres, im Januar 2024, hat der Bundestag eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts beschlossen. Angekündigt wurde ein “modernes Staatsangehörigkeitsrecht”, Einbürgerungen sollen in Zukunft schneller möglich sein, “besondere Integrationsleistungen” sollen durch noch schnellere Einbürgerung belohnt werden und Kinder ausländischer Eltern sollen künftig die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen, wenn ein Elternteil mindestens fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat.
Eine besonders vulnerable Gruppe bleibt aber bei den vielen überfälligen Neuerungen weiter unbeachtet und unerwähnt. So leben in Deutschland aktuell fast 30.000 offiziell anerkannte Staatenlose Menschen. Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR Deutschland definiert Menschen als "staatenlos", wenn sie unter nationalen Gesetzen keine Staatsbürgerschaft eines Landes besitzen. Weltweit sind etwa 4,2 Millionen Menschen offiziell als staatenlos anerkannt von den Vereinten Nation. Realistisch liegt die Zahl aber sehr viel höher, bei etwa 10 Millionen weltweit oder sogar noch mehr. Denn nicht bei allen Betroffenen kann die Staatenlosigkeit eindeutig geprüft werden. Unter diese zweite Gruppe (ohne geklärte Staatsangehörigkeit) fallen in Deutschland 2023 circa 97.000 Menschen. Die Zahl der offiziell anerkannten Staatenlosen ist in den letzten Jahren stark gestiegen, hat sich innerhalb von 10 Jahren fast verdoppelt, ein Drittel von ihnen ist Minderjährig.
(De facto) Staatenlos sind beispielsweise Menschen, denen die Staatsangehörigkeit von dem Staat in dem sie leben verweigert wird, wie den Rohingya in Bangladesch und Myanmar oder zahlreichen Bewohnerinnen der Elfenbeinküste. Daneben haben viele Menschen, die in “failed States” also gescheiterten Staaten wie beispielsweise Afghanistan, Somalia, Libyen, Syrien geboren wurden, keine Dokumente, die ihre Identität beweisen können und haben auch keine Möglichkeit, sich um einen neuen Nachweis zu bemühen. Auch Herkunftsstaaten, die heute nicht mehr existieren wie die ehemalige UdSSR und Jugoslawien stellen Einwohnerinnen vor Probleme, wenn die Dokumente fehlen, um die Staatsangehörigkeit der Nachfolgestaaten zu erhalten.
Daneben existieren zahlreiche weitere Gründe für Staatenlosigkeit, manchmal werden Geburten nicht registriert, in einigen Ländern können Mütter nur in wenigen Fällen ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder vererben. Auch können Dokumente auf der Flucht verloren gehen, oder ihre Dokumente werden in anderen Ländern nicht anerkannt und die Personen werden (de jure) staatenlos, weil sie Schwierigkeiten beim Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit haben. Daneben treten auch immer wieder Fälle auf, bei denen Menschen (de jure) staatenlos werden aufgrund unterschiedlicher Zeitrechnung zwischen zwei Ländern, mangelnder Kooperation der Herkunftsländer oder durch Fehler von Behörden in Europa (Zuordnungen zu falschen Bevölkerungsgruppen, fälschlicher Entzug der Staatsangehörigkeit, Falsche Daten in ausgegebenen Dokumenten und andere Probleme während der Bearbeitung von Asylgesuchen).
In Deutschland kommt noch eine Gruppe von Staatenlosen hinzu, die die Staatenlosigkeit von ihren Eltern geerbt haben. Da in Deutschland das Staatsangehörigkeitsrecht dem Abstammungsprinzip folgt, bekommen Kinder von Staatenlosen die in Deutschland geboren werden nicht bei Geburt die deutsche Staatsbürger*innenschaft. Sie zählen selbst auch zu den Staatenlosen. Von den oben genannten 30.000 offiziell Staatenlosen in Deutschland wurden etwa 5.000 auch im Land geboren, genauso wie weitere 8.300 Kinder ohne geklärte Staatsangehörigkeit.
Die Aufenthaltssituation der Staatenlosen in Deutschland ist in den meisten Fällen prekär. 2022 hatten 54% (49.610) der Menschen mit “ungeklärter Staatsangehörigkeit” nur einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel in Deutschland (z.B. mit subsidiärem Schutz). Weitere 28,6% (26.190) besaßen gar keinen Aufenthaltstitel, sondern nur eine Duldung, eine Aufenthaltsgestattung oder keins von beidem. Besonders verwundern kann, dass auch unter den 30.000 offiziell anerkannten Staatenlosen, bei denen qua Anerkennung deutlich sein müsste, dass sie kein Herkunftsland haben, dass sie zurücknehmen würde, im Jahr 2023 knapp ein Drittel (7.500) geduldet waren und 16.000 über "kein Aufenthaltsrecht" (16.000) verfügten.
Bei Personen mit “ungeklärter” Identität werden häufig kurzfristige Duldungen vergeben, um Druck aufzubauen, damit sie sich um eine Klärung der Identität und Staatsangehörigkeit bemühen. Diese Menschen und ihre Kinder leben in der Folge oft jahrelang in Unsicherheit und wissen ihren Aufenthalt immer nur für ein paar Monate in Sicherheit. Das Verfahren, durch das die Duldungen immer und immer wieder verlängert und mit großem Zeitaufwand verlängert werden müssen, grenzt an Schikane. Stufen die Behörden das Mitwirken zur Identitätsklärung durch die Betroffenen als unzureichend ein, kann es zu weiteren Einschränkungen kommen, wie zum Entzug der Beschäftigungserlaubnis.
Staatenlosigkeit rückt die Betroffenen in Deutschland an den Rand der Gesellschaft. Die Bewerbung um Wohnungen ist schwierig, das Erlangen eines Kita-, Studien- oder Arbeitsplatzes ist teilweise unmöglich. Staatenlose, die einen Studienplatz haben, müssen diesen teilweise wieder aufgeben, weil sie keine Geburtsurkunde haben, mit der sie sich zu bestimmten Prüfungen anmelden können. Sie sind von der Verbeamtung ausgeschlossen und dürfen nicht wählen. Das Eröffnen eines Kontos ist oft unmöglich. Kurz, sie sind gesellschaftlich außen vor. Für Staatenlose gestaltet sich auch ein etwaiger Ehe- und Familiennachzug als extrem langwierig und problematisch, wenn dieser überhaupt ermöglicht wird. Auch eine Heirat in Deutschland ist für Staatenlose nahezu unmöglich, denn dazu sind Dokumente nötig, die sie nicht haben und die ihnen auch in Deutschland im Nachhinein nicht ausgestellt werden. Behörden wollen so sicherstellen, dass im Ausland nicht bereits eine Heirat besteht. Zwar ist es anerkannt Staatenlosen möglich einen Ersatzreiseausweis zu bekommen, in der Realität erkennen aber nicht alle Länder dieses Dokument an, Reisen ist also nur eingeschränkt möglich und der Erhalt eines regulären Ausweises ebenfalls schwierig. Neben vielen weiteren Problemen, die das alltägliche Leben von Staatenlosen einschränken, nicht nur im Umgang mit Behörden, kommt auch die Vererbung der Staatenlosigkeit an Kinder hinzu. So bekommen die meisten Eltern lediglich einen Auszug aus dem Geburtenregister, keine Geburtsurkunde, da sie hierfür die eigene Abstammung und den Familienstand nachweisen müssten.
Einbürgerung und Anerkennung der Staatenlosigkeit
Der einzige Ausweg für die meisten dieser Probleme wäre die Einbürgerung. Doch ohne Überarbeitung des Staatsangehörigkeitsrechts auf diesen Aspekt hin, bleibt auch das undurchsichtig und herausfordernd. Von 2015 bis 2020 erhielten insgesamt 4.782 staatenlose Personen und 3.197 Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Zahlen den Staatenlosen sind in diesem Zeitraum trotzdem weiter deutlich gestiegen. Zwar gibt es in Deutschland ein Gesetz zur Verminderung von Staatenlosigkeit mit der Pflicht zu Gleichstellung von staatenlosen und ausländischen Personen, basierend auf dem gleichnamigen völkerrechtlichen Übereinkommen von 1961 und dem Übereinkommen zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit von 1973, an der Umsetzung mangelt es aber an einigen Stellen, denn es gibt bis heute kein festgelegtes Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit. Spätestens an diesem Punkt wird der rechtsfreie Raum erreicht. Die Anerkennung von Staatenlosigkeit ist an die abschließende Identitätsklärung geknüpft, die eine Kontaktierung der Auslandsvertretung der jeweiligen möglichen Herkunftsländer voraussetzt. Dort wird dann eine Bestätigung der Staatsangehörigkeit angefragt. Wenn diese nicht bestätigt wird, kann zumindest theoretisch von Staatenlosigkeit ausgegangen werden. Das bedeutet aber, dass Menschen unter Umständen ein Regime, das sie verfolgt hat und vor dem sie auf der Flucht sind um eine Bestätigung der Staatsangehörigkeit bitten müssen, oder der Staat nicht mehr existiert und in jedem infrage kommenden Nachfolgestaat solche Anfragen gestellt werden müssen. Gerade Ersteres ist kaum zumutbar. Aber selbst wenn die angefragten Auslandsvertretungen keine Staatsangehörigkeit bestätigen, führt das nicht automatisch zur Anerkennung der Staatenlosigkeit. Wird sie aber doch festgestellt, kann bei rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt werden.
Doch damit ist der Weg zur Einbürgerung noch lange nicht abgeschlossen. Aktuell ist eine Einbürgerung nur möglich, wenn die Person einen mindestens sechsjährigen Aufenthalt in Deutschland nachweisen kann und ihre Identität abschließend geklärt ist. Ohne Anerkennung als Staatenloser geht nichts und selbst dann werden die eingereichten Identitätsnachweise nicht immer als ausreichend angesehen und die Einbürgerung scheitert. Problematisch ist auch, dass es keine geregelten Verfahren zur Einbürgerung gibt, sie sind nicht durch nationale Gesetze festgeschrieben und geschützt. In der Folge hängt der Erfolg der Einbürgerung häufig an einzelnen Richterinnen und Behördenmitarbeiterinnen. Es kommt vor, dass Behörden in unterschiedlichen Bundesländern in identisch gelagerten Fällen zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Das ist aber nicht unbedingt auf den Unwillen der Behörden zurückzuführen, sondern vielmehr auf Unwissenheit, der Wissensstand der Zuständigen hat entscheidenden Einfluss auf den Erfolg von Einbürgerungen. Viele Mitarbeiterinnen in Behörden sind nicht geschult im Umgang mit Staatenlosen und können nicht weiterhelfen. Für die Staatenlosen gibt es also trotz Völkerrechtsübereinkommen keine Rechtssicherheit.
Da auch bei in Deutschland geborenen Kindern das Abstammungsprinzip eine sofortige Verleihung der Staatsangehörigkeit verhindert, müssen auch sie sich gegebenenfalls um die Einbürgerung bemühen. Kinder von Staatenlosen müssen seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland leben und den Antrag stellen, bevor sie 21 Jahre alt sind. Ausgeschlossen von der Einbürgerung sind sie, wenn sie zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden sind.
Es wird also deutlich, dass vielen Staatenlosen, vor allem denen ohne abschließend geklärte Identität, der Weg zur Einbürgerung verschlossen bleibt und sie ihre Staatenlosigkeit an ihre Kinder weitervererben werden. Gleichzeitig kann es aber doch nicht im Interesse der Bundesrepublik sein, eine steigende Anzahl von Menschen zu haben, die von großen Teilen des Alltagslebens und so grundsätzlichen Behördengängen wie bei Geburten oder Heirat ausgeschlossen sind. Es ist Zeit, endlich diesen rechtsfreien Raum zu schließen und den Betroffenen einen geregelten Ausweg aus dem undurchsichtigen Schwebezustand der Staatenlosigkeit zu geben. Sie müssen endlich auch Teil der demokratischen Gesellschaft werden können, das wäre ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht!
Deshalb fordern wir:
● Bundeseinheitlich geregelte Verfahren zur Anerkennung von Staatenlosen
● Bundeseinheitliche Verfahren zur Einbürgerung von Staatenlosen und die gesetzliche Verankerung
● Schulungen für Behördenmitarbeiter*innen zum kompetenten Umgang mit (de jure und de facto) Staatenlosen
● dass Staatenlosigkeit nicht länger vererbt wird in Deutschland! Kinder von anerkannt (de facto) Staatenlosen bei Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten
● auch Kinder von (de jure) Staatenlosen ohne abschließend geklärte Identität muss bei Geburt sofort die Staatenlosigkeit anerkannt werden und damit gleichzeitig das Anrecht auf die Deutsche Staatsangehörigkeit
● Staatenlose bereits nach drei Jahren eingebürgert werden können
● dass die Nachweishürden und die Ausgabe von Dokumenten (wie Geburtsurkunden) für in Deutschland geborene Staatenlose vereinfacht werden, auch wenn die Identität der Eltern zu dem Zeitpunkt noch ungeklärt ist
● eine Prüfung, welcher Grad an Aufwand und an Mitarbeit zur Identitätsfeststellung an (potentiell) Staatenlose zumutbar ist
● einen Identitätsnachweis, der auch Staatenlosen ohne abschließend geklärte Identität die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglicht (Arbeitssuche, Ausbildung, Wohnungssuche, Kitaplatz, usw.)
● dass sich die Bundesregierung durch Maßnahmen und Gesetzesänderungen zur Reduzierung der Zahlen der anerkannt und nicht-anerkannt Staatenlosen einsetzt
● das Aufweichen des Kriteriums der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts über die gesamte Zeitspanne des Aufenthalts bei Staatenlosen bei ihrer Einbürgerung, da vielen die Sicherung des eigenen Lebensstandards durch ihre Staatenlosigkeit extrem erschwert wird